Flashback - Meine Perspektive vor der Diagnose

09.01.2023 18:03 (zuletzt bearbeitet: 09.01.2023 18:06)
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Eines meiner Hobbies ist kreatives Schreiben. Heute habe ich nach Ewigkeiten mal wieder eine Kurzgeschichte gelesen, die ich 2017 geschrieben habe, mit stark autobiografischen Elementen. Die Geschichte erzählt von zwei scheinbar sehr unterschiedlichen Zwillingsbrüdern, einer von ihnen der Karrieretyp, der andere der Underachiever, der sich nicht dafür interessiert, was andere von ihm erwarten. Das Ganze ist etwas seltsam und im Laufe der Geschichte stellt sich heraus, dass sie ursprünglich ein und dieselbe Person waren, und durch einen übernatürlichen Zwischenfall in einer Weihnachtsnacht ihre zwei "Ichs" in zwei Körper aufgeteilt haben, wodurch sie beide besser dran sind. Und an einigen Stellen musste ich echt schlucken. Hier ein Auszug:

*****

Wie an jedem Heiligabend wurden Wetten abgeschlossen, wer von uns später dran sein würde. Thorsten hasste es, unpünktlich zu sein, egal zu welchem Anlass, und besonders bei unseren Eltern. Immerhin hatte er stets eine gute Ausrede: (...) Ich konnte keine dieser Ausreden für mich in Anspruch nehmen, aber ich hatte einen entscheidenden Vorteil: Es war mir egal.

(...)

„Und“, fragte Opa, „gibt’s bei dir was Neues, André?“ (...)

„Ach, alles beim Alten“, erwiderte ich. „Ich kann mich nicht beklagen. Habe mehr Aufträge, als ich erfüllen kann.“ Tatsächlich hätte ich sie schon erfüllen können, wenn ich gewollte hätte, aber das wäre auf Kosten meiner Freizeit gegangen. Die Diskussion hatte ich mit unserem Vater schon mehrfach geführt, er würde mich dann fragen, wovon ich im Alter leben wolle, und ich würde ihm entgegnen, welchen Wert es habe, nur für morgen zu leben, wenn man dadurch heute unglücklich sei. Und Opa, der würde zwar nicht mit mir streiten, weil er dazu zu lieb war, aber der hatte als Junge noch den Krieg miterlebt, der konnte schon gar nicht verstehen, wie man so sein kann, wie ich.

Tja, es stimmt, ich bin Freiberufler und lege nichts fürs Alter zurück. Wenn ich so weitermache, werde ich irgendwann von Sozialhilfe leben müssen. Aber bis dahin ist Thorsten hoffentlich Multimillionär und wird sich schon um mich kümmern. Das ist er mir schuldig.

(...)

Unterrichten ist für mich der perfekte Job, weil ich dabei nicht prokrastinieren kann. Die Leute sind ja da, sie gucken mich an und warten drauf, dass ich was sage, also kann ich nicht im Internet surfen, ich kann nicht die Xbox anschmeißen oder mich wieder ins Bett legen, ich muss denen jetzt was erzählen, und das mache ich dann auch und normalerweise finden sie es gut, und dann macht es auch Spaß.

(...)

Es war Heiligabend. Thorsten war noch ich und ich war noch er. Doch wir waren uns schon sehr uneinig. Er war sauer auf mich, weil ich ihn einschränkte, ihn runterzog, ihn daran hinderte, seine volles Potential abzurufen. Zu dem Zeitpunkt steckten wir ja noch im selben Körper fest. Wir waren auch keine gespaltene Persönlichkeit oder sowas, wir waren eins. Eins, doch zerrissen.

“Boah, ich fasse es nicht”, zischte er mich an. Wir standen vor dem Spiegel in unserem Zimmer im Haus unserer Eltern und führten Selbstgespräche. Ich stelle mir gerne mich selbst als Smeagol im Spiegel vor, und Thorsten als Gollum davor. “In ein paar Wochen ist die Zwischenprüfung, und du hast kaum gelernt, weil du die ganze Zeit zocken musstest! (...)

“Alter, du bist so eine Pest. Dir geht es doch gar nicht um Spaß, dir geht es nur um Bequemlichkeit. Immer, wenn es anstrengend oder unangenehm wird, drückst du dich, versteckst dich irgendwo in deinen Spielen und Fantasy-Welten. Nur dass du’s weißt, du kannst nicht bis Silvester bleiben und bei Michaels D&D-Revival mitspielen. Du musst lernen!” (...)

“Fick dich. Ich hasse dich. Warum kannst du nicht einfach verschwinden und mich in Ruhe lassen?”

“Ach ja? Danke gleichfalls! Warum musst du mir alles versauen mit deiner Faulheit und deinen scheiß Komplexen?”

(...)

“Danach waren wir beide frei”, sagte ich schließlich sanft. “Thorsten konnte endlich ungehindert sein Potential ausschöpfen. Er freundete sich mit den Leuten an, die genauso ehrgeizig waren wie er, machte seine Praktika in Großkanzleien und DAX-Unternehmen, und wurde dieser Karrieretyp, der ich nie hätte sein können. Und ich, ich verlor meinen Raid-Platz trotzdem, weil ich ohne Thorsten einfach nicht mehr den Ehrgeiz dafür hatte.” Auch heute noch musste ich über diese Ironie schmunzeln

(...)

“Und heute ist er der Typ mit der Vorzeigefamilie und dem Vorzeigejob, und du bist…”

“Besser dran.” Ich setzte mein ehrlichstes Gesicht auf. “Ich hab meine Ruhe und muss niemandem was beweisen, bin für niemanden verantwortlich außer mich selbst. Ich hab kein kleines Status-Teufelchen auf meiner Schulter, das mir ständig einredet, ich bräuchte das Auto, die Uhr, die Clubmitgliedschaft. Ich trauere meinem Potential nicht hinterher. Ich habe Muße, und das ist ein echt großes Geschenk.”

Darüber dachte sie einen Moment nach. “Und füllt dich das wirklich aus? Hast du nicht das Gefühl, dass dir irgendwas fehlt?”

“Was, so zu sein wie alle anderen?” entgegnete ich müde. “Diese Erwartungshaltung hätte ich sowieso nie erfüllen können. Für den Part war immer Thorsten zuständig, aber solange ich auch er war, führten beide Wege zu Frust und Selbsthass.”

(...)

“Ich frage mich die ganze Zeit”, sagte sie schließlich, als wir vor dem Hotel angekommen waren, “was ist die Moral von der Geschichte? Dramaturgisch gesehen müsste es in einer großen Tragödie enden, um zu zeigen, dass man die natürliche Ordnung der Dinge nicht auf den Kopf stellen darf. Andererseits bekommen in diesem Stück alle, was sie wollen: Du deine Muße, Thorsten sein Leben auf der Überholspur, und Sabrina und die Kinder bekommen euch beide. Keine faulen Kompromisse, alle sind glücklich. Und das ist nur möglich, weil ihr euch in zwei geteilt habt.”

“Genau.”

“Das ist ne scheiß Moral. Menschen können sich nämlich nicht teilen.”

“Tja”, sagte ich, “so ist das Leben.”


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