Älteres Kind auch behandeln?

14.11.2021 14:36
#1
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Hallo,

ich bin neu hier, habe aber schon einiges gelesen und dachte, ich trau mich jetzt mal :)

Kind2 ist in der ersten Klasse und bekommt seit 1 Monat Medikinet, recht niedrig dosiert (5mg morgens). Das Problem ist bei ihm hauptsächlich die Impulskontrolle. Er ist zwar aktiv, aber m.M.n. nicht hyperaktiv, dafür tut er sich sehr schwer, seine Gefühle zu steuern und rastet von einer Minute auf die andere aus. Die erste Schulwoche lief super. Da dachte er aber noch, dass er gleich Rechnen und Schreiben lernt. Mein Mann und ich sind beide an der Grenze zur Hochbegabung und mein Sohn hat vor 3 Monaten angefangen, Zahlen zu multiplizieren. Ab der zweiten Woche ging es bergab und er hat sich mit einem Jungen regelmäßig geprügelt. Eigentlich sind die zwei Freunde, aber das andere Kind lügt manchmal und mein Sohn weiß sich dann nicht zu helfen. Wir üben mit ihm seit Jahren, seine Gefühle wahrzunehmen und anders auszudrücken (spiegeln, sagen: "ich bin jetzt echt wütend!", durchatmen, aus der Situation gehen, usw.). Allerdings offensichtlich mit bescheidenem Erfolg. Die Lehrerin hatte mein cleveres, feinfühliges Kind dann sofort in eine Schublade geschoben und mich allen Ernstes gefragt, was wir daheim für einen Umgang pflegen würden und ob er "fähig wäre" Beziehungen zu führen. Dabei hat mein Sohn immer tolle Freunde und auch seit 2 Jahren eine "Verlobte" ;)

Wir sind dann beim Kinderpsychiater vorstellig geworden und der hat die Diagnose gestellt und die Medis verschrieben. Wir waren zwar nicht total überrascht, weil er wirklich alle beschriebenen Symptome zeigt, aber es war doch ein wenig ein Schock, dass er angeblich ein "schwerer Fall" ist. Dazu muss man sagen: unsere zwei Kinder sind nur ein Jahr auseinander und hatten beide als Babys eine Regulationsstörung. Sie haben die ersten 3 Monate durchgeschrien, trotz allem Tragen, Stillen, Kuscheln usw. Da war nichts zu machen. Im Nachhinein erklärt die Diagnose auch seine heftigsten Trotzanfälle. Insgesamt führen wir aber ein sehr strukturiertes und liebevolles Familienleben. Wir haben klare Regeln und Rituale. Das Aufstehen, Bettgehen, Mithelfen, Hausaufgaben machen.... All das läuft ja eigentlich bei uns. Kann er dann so ein schwerer Fall sein?

Hauptsächlich organisiere und strukturiere ich unseren Alltag. Mein Mann ist keine große Hilfe. Ich liebe ihn sehr, aber er dürfte selber einen schweren Fall von ADS haben. Er kriegt wenig mit und kann schlecht zuhören. Ob ich es habe weiß ich nicht, Selbsttests im Internet waren grenzwertig aber ok. Ich denke, einige "Symptome" kommen bei mir eher durch die Überlastung, alles zu organisieren und für alle mitzudenken. Das macht auch ziemlich unruhig :)

Nun das Problem. Meinem Sohn geht es momentan viel besser und die Schule läuft wieder. Meine ältere Tochter hat aber definitiv auch ADS. Sie ist genau wie ihr Vater, träumt viel, kriegt wenig mit. Sie macht sich in der Schule ganz, ganz toll und weiß immer, was sie aufhat usw. Aber ich muss ihr immer noch jeden Morgen beim Anziehen helfen, sonst werden wir in einer Stunde nicht fertig (am Wochenende hat sie die Zeit, da macht sie es natürlich allein). Sie hat oft kleinere Ticks und ungewöhnliche Verhaltensweisen. Hier daheim ist das zwar manchmal komisch, aber wir kommen damit klar. Sie merkt aber, dass sie "anders" ist und manches nicht schafft. Ich habe Angst, dass sie diese Sorgen internalisiert und ihre Probleme erst später kommen. Mein Mann ist absolut gegen eine Behandlung bei ihr, weil er meint, er hätte es auch so geschafft (er ist sehr erfolgreich in einem anspruchsvollen Job) und sie müsse lernen, damit umzugehen. Ich habe Sorge, dass sie, auch wenn jetzt nach außen alles läuft, sich innen die Probleme und Ängste stapeln und wir es nicht mitbekommen. Verwähre ich meiner Tochter eine Chance, wenn ich ihr keine Medizin gebe, oder schade ich ihr mehr, indem ich ihre Kompetenz mit der Situation umzugehen unterschätze?

Jetzt ist es wahnsinnig lang geworden. Entschuldigung. :)))) Bin für alle Meinungen und Ansichten dankbar.
LG BackToTheRoots


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14.11.2021 16:08
#2
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Herzlich willkommen im Forum BackToTheRoots!

Zitat von BackToTheRoots86 im Beitrag #1
Die Lehrerin hatte mein cleveres, feinfühliges Kind dann sofort in eine Schublade geschoben und mich allen Ernstes gefragt, was wir daheim für einen Umgang pflegen würden und ob er "fähig wäre" Beziehungen zu führen.

Ja, unsere Pädagogen und ihre Schubladen! Das Leiden unserer Kinder wäre nicht mal halb so groß, wenn sie durch die Schule nicht immer wieder demotiviert und seelisch verletzt würden.

Zitat von BackToTheRoots86 im Beitrag #1
Selbsttests im Internet waren grenzwertig aber ok.

Selbsttests im Internet sind mal so, mal so. Mehr Gewissheit erhältst du, wenn du einen Test machst, speicherst, den Test am nächsten Tag zu einer anderen Tageszeit nochmal machst und dann Test 1 mit Test 2 vergleichst. Bei wie viele Fragen weichen die Antworten ab? Je öfter desto ADHS ... .

Zitat von BackToTheRoots86 im Beitrag #1
Sie hat oft kleinere Ticks und ungewöhnliche Verhaltensweisen.

Was meinst du mit "Ticks"? Es gibt Tics, das sind unwillkürlich mehrfach auftretende Bewegungen oder Geräusche. Und es gibt Ticks, das sind Eigenheiten (wenn du zB grundsätzlich den Nachtisch vor der Vorspeise isst), also wenn du dich sonderlich verhältst.

Zitat von BackToTheRoots86 im Beitrag #1
Mein Mann ist absolut gegen eine Behandlung bei ihr ...

Ist er gegen eine Behandlung oder schon gegen eine Diagnostik?

Zitat von BackToTheRoots86 im Beitrag #1
..., weil er meint, er hätte es auch so geschafft

Dein Mann ist sicher etwas älter als deine Tochter ... und ist zu einer Zeit zur Schule gegangen, in der es den Lehrkräften noch darum ging, Bildung an ihre Schüler zu vermitteln. Heute sehen manche (!) Lehrkräfte ihr Ziel darin, anderer Leute Kinder zu erziehen und durchaus auch gegen die Eltern zu arbeiten. Es ist schade, ist aber leider so.


Zitat von BackToTheRoots86 im Beitrag #1
Ich habe Sorge, dass sie, auch wenn jetzt nach außen alles läuft, sich innen die Probleme und Ängste stapeln und wir es nicht mitbekommen.

Das kann durchaus so sein. Beobachte, ob deine Tochter irgendwie leidet.

Zitat von BackToTheRoots86 im Beitrag #1
Verwähre ich meiner Tochter eine Chance, wenn ich ihr keine Medizin gebe, ...

Du verwehrst ihr eine Chance, wenn du ihr eine Diagnostik vorenthältst. Ob sie bei Vorliegen einer ADHS Medikamente braucht, steht auf einem ganz anderen Blatt.

Zitat von BackToTheRoots86 im Beitrag #1
Jetzt ist es wahnsinnig lang geworden. Entschuldigung.

Lang geht anders ... ... und es sind noch reichlich Fragen offen.

Lesen gefährdet die Dummheit


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14.11.2021 17:02
#3
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Hallo - willkommen im Forum!

Ich kann dir auch nur raten, dass ihr eure Tochter auch diagnostizieren lasst.

Bei meinem Sohn kam die Diagnose in der 3. Klasse (extreme Wahrnehmungsstörung + Konzentrationsschwierigkeiten).

Beim nächsten Termin habe ich dann meine Tochter (Konzentrationsschwierigkeiten) diagnostizieren lassen
- sie kam mit Noten um die 1 / 2 durch die Grundschule und ist in der 5. Realschule total abgesackt.
Bei der Diagnose kam dann heraus, dass sie auf dem Weg in eine Schuldepression war.
Sie war nicht auffällig, wenn ich mich nicht durch meinen Sohn mit dem Thema befasst hätte,
wäre es mir nicht aufgefallen.

Wir haben dann mit Medikation angefangen und innerhalb kurzer Zeit
haben sich ihre Noten wieder sehr verbessert und sie hat die Schule gut geschafft.

Und von vielen Lehrern reden wir lieber nicht - ich hoffe immer noch, dass sich da mal mehr tut...

Es lohnt


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14.11.2021 17:17
#4
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Hallo BackToTheRoots,

herzlich willkommen bei uns im Forum!

Zitat von BackToTheRoots86 im Beitrag #1
Die Lehrerin hatte mein cleveres, feinfühliges Kind dann sofort in eine Schublade geschoben und mich allen Ernstes gefragt, was wir daheim für einen Umgang pflegen würden und ob er "fähig wäre" Beziehungen zu führen.


Oh weh, labernde Leerkräfte sind einfach die Pest! Es wäre wirklich besser, sie würden die Grenzen ihrer Kompetenzen und ihrer Zuständigkeiten erkennen. Vergiss diese blöde Bemerkung ganz schnell wieder.

Zitat von BackToTheRoots86 im Beitrag #1

Wir waren zwar nicht total überrascht, weil er wirklich alle beschriebenen Symptome zeigt, aber es war doch ein wenig ein Schock, dass er angeblich ein "schwerer Fall" ist. (...) Insgesamt führen wir aber ein sehr strukturiertes und liebevolles Familienleben. Wir haben klare Regeln und Rituale. Das Aufstehen, Bettgehen, Mithelfen, Hausaufgaben machen.... All das läuft ja eigentlich bei uns. Kann er dann so ein schwerer Fall sein?


Es gibt bei euch offensichtlich mehrere stützende Faktoren: Klare Strukturen, eine liebevolle Grundstimmung, eine hohe Begabung, mit der auch "schwere Fälle" sich oft dann noch regulieren können, wenn andere Betroffene die Fassung verlieren. Eure Kinder erleben eine für ADHSler artgerechte Haltung , das ist wirklich sehr viel wert. Die Schule aber ist leider alles andere als stützend, viele Reize, viele Anforderungen an das Verhalten, die daheim entfallen, Frustrationen, und so weiter. Da zeigt sich die ADHS deutlicher als daheim.

Zitat von BackToTheRoots86 im Beitrag #1
Hauptsächlich organisiere und strukturiere ich unseren Alltag. Mein Mann ist keine große Hilfe. Ich liebe ihn sehr, aber er dürfte selber einen schweren Fall von ADS haben. Er kriegt wenig mit und kann schlecht zuhören. Ob ich es habe weiß ich nicht, Selbsttests im Internet waren grenzwertig aber ok. Ich denke, einige "Symptome" kommen bei mir eher durch die Überlastung, alles zu organisieren und für alle mitzudenken. Das macht auch ziemlich unruhig :)


ADHS vererbt sich sehr oft. Und Menschen mit ADHS lieben ganz oft andere Menschen mit ADHS. Man findet sich halt . Ich glaube, fast alle hier kennen das sehr gut.

Zitat von BackToTheRoots86 im Beitrag #1
Meine ältere Tochter hat aber definitiv auch ADS. Sie ist genau wie ihr Vater, träumt viel, kriegt wenig mit. Sie macht sich in der Schule ganz, ganz toll und weiß immer, was sie aufhat usw. Aber ich muss ihr immer noch jeden Morgen beim Anziehen helfen, sonst werden wir in einer Stunde nicht fertig (am Wochenende hat sie die Zeit, da macht sie es natürlich allein). Sie hat oft kleinere Ticks und ungewöhnliche Verhaltensweisen. Hier daheim ist das zwar manchmal komisch, aber wir kommen damit klar. Sie merkt aber, dass sie "anders" ist und manches nicht schafft. Ich habe Angst, dass sie diese Sorgen internalisiert und ihre Probleme erst später kommen.


Das ist leider typisch, und leider auch sehr wahrscheinlich! Mädchen passen sich besser an, fallen dadurch weniger auf, leiden still in sich hinein, entwickeln dann aber Komorbiditäten wie Tics, Angststörungen, Depressionen, und so weiter. Wenn sich das manifestiert, ist es sehr schwer, wieder in die Spur zu kommen. Besser ist es, wenn es gar nicht so weit kommt.

Zitat von BackToTheRoots86 im Beitrag #1

Mein Mann ist absolut gegen eine Behandlung bei ihr, weil er meint, er hätte es auch so geschafft (er ist sehr erfolgreich in einem anspruchsvollen Job) und sie müsse lernen, damit umzugehen. Ich habe Sorge, dass sie, auch wenn jetzt nach außen alles läuft, sich innen die Probleme und Ängste stapeln und wir es nicht mitbekommen. Verwähre ich meiner Tochter eine Chance, wenn ich ihr keine Medizin gebe, oder schade ich ihr mehr, indem ich ihre Kompetenz mit der Situation umzugehen unterschätze?


Eine Diagnostik ist noch keine Behandlung. Bau deinem Mann diese Brücke. Die Wartezeiten für Diagnosetermine sind so lang, es ist unklug, erst zu handeln, wenn eure Tochter einbricht.

Eine ADHS-Diagnose bedeutet nicht zwingend, dass überhaupt Medikamente nötig sind. Und wenn Medikamente sein müssen, dann auch nicht durchgehend lebenslang. Mein Sohnemann, ein Oberhypie, bekam schon sehr früh Medis, weil er keine einzige Therapiestunde ohne ausgehalten hätte. Meine sehr intelligente Älteste wollte die Diagnose nie anerkennen und verweigerte jede Therapie, nahm also nie Medis. Sie kam aber trotzdem durch die Schule, machte Abitur, hat, wenn auch nach Umwegen und länger als üblich, ein abgeschlossenes Studium. Erst als junge Erwachsene konnte sie sich dem Thema öffnen, die Diagnose für sich akzeptieren und vor allem als richtig bestätigen. Falls sie sich dazu durchringt, eine Therapie, ob nun mit oder ohne Medis, zu beginnen, hat sie eben ihren Diagnosebericht schon vorliegen.

Dein Mann ist eine andere Generation. Ja, wir "älteren" ADHSler:innen haben unser Leben auch ohne Diagnose und Medis oft irgendwie geschafft. Wenn ich jetzt mal unterstelle, dass die hohe Intelligenz auch bei den Eltern vorhanden sein dürfte, und dass dein Mann seinen Job sehr mag (dadurch eine hohe Motivation hat, was stützend wirkt), dann ist es nicht verwunderlich, dass er es - zu den Bedingungen "damals" - auch ganz ohne den "Psychokram" (<- so sieht mein Mann das manchmal auch heute noch) durch's Leben gekommen ist.

Aber das ist eigentlich kein Argument. Schule und Beruf heute sind für junge Menschen erheblich schwieriger geworden. Und nur, weil wir "damals" noch zu Fuß in die Stadtbibliothek gegangen sind, um Dinge für irgendwelche Recherchen nachzuschlagen, sind wir ja heute nicht gegen das Internet als deutliche Erleichterung. Unser Leben wäre vielleicht noch ganz anders verlaufen, hätten wir eine Diagnose und die entsprechende Unterstützung gehabt. Aber das führt als Einstieg zu weit.

Sprich: BITTE lasst eure Tochter diagnostizieren! Mädchen, besonders die klügeren und stilleren, werden einfach viel zu oft übersehen in ihrem Leid.

LG, Mandelkern


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14.11.2021 19:26
#5
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Danke für die Rückmeldungen,

wir waren mit ihr bei einem Psychiater, als der Kindergarten in der Vorschule uns auf ihre Verträumtheit ansprach (wegen ADS). Der Psychiater machte einen eher schlechten Eindruck und ließ uns eher ohne konkrete Diagnose zurück. Es war eher so ein: "Naja, Konzentration ist nicht ihre Stärke. Muss man dann mal sehen." Ich würde mit ihr nun zu dem gleichen Arzt gehen, bei dem mein Sohn ist. Da fühle ich mich besser aufgehoben.

Sie macht manchmal unwilkürlich Geräusche. Es sind aber eher komische Angewohnheiten, als richtige Tics ist so mein Gefühl. Immer mal wieder grimassiert sie, wenn sie sehr aufgeregt ist. Sie reißt dann die Augen auf oder den Mund weit auf. Außerdem piddelt sie beim Essen wirklich fast zwanghaft an Verpackungen herum und knuddelt Menschen ohne Vorwarnung sehr fest. Wie gesagt, wir kennen sie so und kommen damit klar. Sie hat eine beste-beste Freundin, die sie mit allen Spleems liebt. Ich könnte mir aber vorstellen, dass Kinder, die sie nicht so gut kennen, es befremdlich finden.

Manchmal (alle paar Monate) hat sie richtige Zusammenbrüche und weint dann wegen einer Kleinigkeit haltlos. Dann bricht oft viel aus ihr raus und das muss dann auch erstmal raus. Sie meint dann, keiner mag sie und sie hat keine Freunde und macht immer alles falsch. Das macht mir dann immer große Sorgen, dass sie so von sich denkt.

Mein Mann ist nicht generell gegen eine Diagnose. Im Gegenteil sind wir uns sicher, dass sie es hat. Er ist dagegen, zu handeln, wenn es keine Probleme gibt und ich verstehe schon, was er meint. Aber ich sehe es eigentlich ähnlich, wie ihr. Ich möchte nicht erst handeln, wenn sie schon völlig am Boden liegt. Vielleicht lässt er sich ja über diese "Brücke" mit der Diagnose beruhigen. Es waren bei ihm ja wirklich andere Zeiten.


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